Lehrveranstaltungen Lampe, Filmanalyse

Filmmusik 4: Leitmotivtechnik

 

Die Nibelungen (Buch: Thea von Harbou, Fritz Lang; Regie: Fritz Lang) ist die erste zweiteilige Verfilmung des literarischen Stoffs, der sich in verschiedenen Heldenepen niedergeschlagen hat.  Teil 1 hat den Titel „Siegfried“, Teil 2 „Kriemhilds Rache“. Teil 2 musste - mehrfach - rekonstruiert werden, da viele Szenen verloren gingen. Zuletzt wurde der Film 2010 von der Murnaustiftung komplett in einer aufwändigen und viragierten Fassung vorgestellt. Auch die Musik wurde neu eingespielt (hr-Sinfonieorchester unter der Leitung von Frank Strobel).

Fritz Lang, Die Nibelungen / G. Huppertz / Die Affektstimulation / Adorno/EIsler: Kritik der „Hollywood-Symphonie“

Zu den Nibelungen: In jeweils sieben Akte (Gesänge) unterteilt, entwirft der Film ein monumentales Rührstück von unerfüllter Liebe und grenzenloser Rache, von schwülstiger Poesie und destruktiver Megalomanie, von selbstverleugnender Aufopferung und schließlich der berühmten Nibelungentreue, die aus Kriemhild ein gewissenloses Monster macht, das die Burgunder und die Hunnen mit sich in den Abgrund reißt. Von dieser urdeutschen Tragödie griechischen Ausmaßes erzählt auch die Musik von Gottfried Huppertz.

Gottfried Huppertz’ Nibelungen-Musik zählt zu den großen, stilbildenden Werken der frühen Filmmusik und war die erste Filmkomposition des Komponisten, der 1937, kurz vor seinem 50. Geburtstag, gestorben ist. Mit seiner ersten Filmmusik hatte er sogleich eine große Herausforderung zu meistern: fast fünf Stunden Musik für sinfonisches Orchester. Huppertz hatte zunächst gezögert, den Auftrag anzunehmen, da er befürchtete, dass seine Musik nie unabhängig von Richard Wagner wahrgenommen würde, während die Aufgabenstellung – wie auch die Erwartung von Fritz Lang – eine ganz andere war: nämlich eine Musik zu schreiben, die primär den Anforderungen des Mediums Film entspricht und die musikalisch das Konzept fortführt, nach dem Thea von Harbou und Fritz Lang den großen Stoff aufbereitet und filmisch umgesetzt haben.

Zwar bedient sich Huppertz  der Leitmotivtechnik für Figuren, Handlungen und Symbole, doch er geht mit diesen Motiven anders um als Wagner. Im Vordergrund steht für ihn das Zusammenspiel mit dem Film und seiner Montage, die eine klar definierte Zeitlichkeit für die Musik vorgibt.

Huppertz hat mit seinem innovativen Verständnis von Filmmusik eine prominente Reihe von Nachfolgern, die vieles fortgeführt haben, was Huppertz in den Nibelungen und später bei Metropolis, dem frühen legendären Stummfilm Langs  aus den Jahren 1925/26, an musikalischen Techniken entwickelt hat: Erich Wolfgang Korngold, Franz Waxman oder Max Steiner, die die für das „Golden Age“ der „Hollywood-Symphonie“ stehen).


Musikalische Mittel der Affektstimulation nach Eva Rieger

Literaturhinweis: Eva Rieger, Wagners Einfluss auf Geschlechterrollen in der frühen Filmmusik. In: Annette Kreutziger-Herr / Katrin Losleben (Hg.), History / Herstory. Alternative Mu-sikgeschichten. Köln: Böhlau 2009, S. 231-248

Rieger schildert Richard Wagner als Schöpfer der „Programmmusik“, der aus der Kritik am Sprachtheater eine neu begründete Form des „Musikdramas“ theoretisch begründete und praktisch gründete und damit Impulse bis in die Gegenwart gab - nicht zuletzt für die Filmmusik. Rieger zeigt auf, wie Wagner sich dabei aus der seit der Barockzeit geprägten Tradition der Affekte bediente, um die Ausdruckskraft seiner Musiksprache zu steigern.

Rieger fasst einige Grundregeln dieser Traditionen zusammen, aus denen Wagner schöpft und die von frühen Filmkomponisten übernommen wurden. Im Wesentlichen nennt und behandelt sie vier Schwerpunkte: Lautmalerei, Bewegungsnachahmung, Imitation von Sprachtonfall, Darstellung von Gefühlen.

Die für die Musik relevanten Affekte ließen sich hauptsächlich auf das von Christian Wolff aufgestellte System zurückführen, das er in seinem Werk Psychologica empirica (1732) entwickelte.

Wolff unterscheide zwei Gruppen:

• affecti jucundi: lustvolle Affekte: Liebe, Hass, Freude, Beherztheit, Fröhlichkeit;

• affecti molesti: Unlustaffekte: Mitleid, Neid, Reue, Scham, Furcht, Verzweiflung, Kleinmütigkeit, Trauer, Überdruss, Zorn.

Rieger skizziert die Vielfalt der Mittel, wodurch Gefühlslagen musikalisch umgesetzt würden: Tonart, Tongeschlecht, Rhythmus, Instrumentation, Tempo, Harmonik und Intervalle.


1. Intervalle:

Insbesondere die Intervalle werden sehr aussagekräftig vorgestellt, weil sie die Melodie konstituierten, die viele Hinweise zu geben vermag.

Rieger schränkt die Rolle der Intervalle allerdings ein, wenn sie darauf hinweist: „Die affektive Aussage ist nicht nur von der Größe der Intervalle abhängig, sondern richtet sich auch danach, ob diese auf- oder absteigen, springen, schnell oder langsam ge-spielt werden oder in melodischer Folge vorkommen“ (S. 235).

• Prime:

Der im schnellen Tempo repetierte Ton gilt als Element von Gewalt, Entschlossenheit, sieghafter Freude, allgemein: höchste Erregung.

• Sekunde:

Insbesondere als kleine Sekunde bedeute sie Kleinmütigkeit und Trauer.

Chromatische Schritte abwärts: Verzweiflung, Schmerz, Angst, allgemein: Unlust.

Chromatische Schritte aufwärts: Flehen oder Bitten.

Große Sekunden: eher Affekte des Vergnügens.

• Terz:

Kleine Terzen riefen mit ihrer Molltendenz eine unbehagliche oder elegische (traurige, klagende) Stimmung hervor.

Große Terzen mit Dur-Stimmung signalisierten Wohlbehagen. Im Allgemeinen wirkten große konsonante Tonschritte edel und großmütig, besonders, wenn sie aufstiegen. Rieger verweist auf den französischen Mathematiker und Musiktheoretiker Marin Mersenne (1588-1648), der vom „männlich-aktiven Charakter der großen Terz“ spreche, sie strebe zur Quarte, und daher liege etwas Vorwärtsdrängendes in ihr.

• Quarte:

Am Beginn eines Themas oder einer Melodie und ansteigend: heroische, entschlossene Empfindungen, wie aufwärts gerichtet Melodien kräftig und energisch wirkten.

Die übermäßige Quarte bzw. verminderte Quinte (Tritonus) werde für Affekte des Schmerzes, der Niedergeschlagenheit oder des Klagens verwendet.

• Sexte:

Abwärtsgerichtete Sexten deuteten auf Resignation oder Verzweiflung hin.

• Septe:

Die Septe erreiche in der verminderten Form ihre stärkste Wirkung und zeichne Ge-fühle der Verzweiflung und Erschütterung (vor allem als verminderter Septakkord). Die abwärtssteigende Septe werde für schmerzhafte Gefühle eingesetzt.

• Oktave:

Die Oktave betone das Großartige und stehe für Kraft.


Daneben verweist Rieger noch auf weitere musikalische Mittel der Affektgestaltung:

2. Tongeschlechter:

• Moll: stimmungsmäßige Eintrübung und seelische Vielschichtigkeit, Trauer;

• Dur: positive, nicht selten schlicht-naive Empfindungen.


3. Harmonik / Tonleitern:

• Die diatonische, heptatonische Tonleiter (aus sieben Tönen bestehende abendländische Konvention) stehe für Kraft, Stärke und das Lichtvolle, Bejahende.

• Die chromatische Tonleiter (aus zwölf regelmäßigen Halbtönen bestehend) signalisiere Weinen, Klagen, Leiden, Erdulden von Schmerzen, allgemein: Umschreibungen des Bösen, der Sünde, des Unglücks.


Zusammenfassend gelte – auch für Wagners Adaption der Tradition der Affektstimulation – für

1. die musikalische Umsetzung lustbetonter, freudiger Affekte:

• aufsteigende Melodien oder Sprünge;

• elementare Dreiklangmotivik oder große, aufsteigende Terzen, fanfarenartige Akkordschritte;

• reine Diatonik;

• Durtonart;

• Tonrepetition in hohem Tempo;

• punktierte Rhythmen;

• aufwärtsstrebende Tendenz zum Phrasenbeginn;

• große Lautstärke, volles Orchester, dynamische Wechsel;


2. die musikalische Umsetzung unlustbetonter Affekte:

• stufenweise fallender Bass;

• kleine Intervallschritte (Traurigkeit, Mitleid);

• Gebrauch von Dissonanzen;

• Chromatik (Verzweiflung, Schmerz, Liebessehnsucht, Resignation);

• Molltonart;

• langsames Tempo;

• Sarabandenrhythmus (getragen, gravitätisch);

• absteigende Intervalle und Melodiebögen (vor allem an Phrasenenden);

  1. zurückgenommene Lautstärke, wenig Dynamik.


Diese musikalischen Mittel der Affektgestaltung gehören nicht nur zum Kanon der frühen Filmmusik, sondern wurden fast zu einem Rezeptbuch der „Hollywoodsymphonik“. Bernard Herrmann z.B. hat seine Wagner-Verehrung zum Ausdruck gebracht, indem er in dem Hitchcock-Film Vertigo (1958) das Thema „Isoldes Liebestod“ (aus Wagners Opder Tristan und Isolde) imitiert, als Judy, in Scotties Traumfrau ver-wandelt, auf diesen zukommt.

Auch die frühen Manifestationen der „Mood oder Score“ genannten Filmmusiktechnik fußen auf den oben geschilderten musikalischen Mitteln der Affektstimulation und der Unterstreichung der emotionalen Schichten von Handlungen, inneren Regungen usw.. King Kong und die weiße Frau

und die Kompositionen von Max Steiner (Regie: Merian C. Cooper / Ernest B.Schoedsack, USA 1933) haben hier Maßstäbe gesetzt und diese Technik etabliert.


Kritik der „Hollywood-Symphonie durch Adorno/Eisler

Eine erste, nachhaltige Kritik erfuhr diese kompositorische Praxis 1947 durch die Publikation:

Adorno, Theodor W. / Eisler, Hanns: Komposition für den Film. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006. Neuauflage, Text durchgesehen, korrigiert und ergänzt von Johannes C. Gall. Mit einer DVD "Hanns Eislers Rockefeller-Filmmusikprojekt 1940-1942", ausgewählten Filmklassikern und weiteren Dokumenten. Weicht in wichtigen Punkten von DDR-Ausgabe ab: siehe Erläuterungen von Gall (1. Auflage: New York  1947: Composing for the Films)

Adorno/ Eisler kritisieren die Leitmotivechnik folgendermaßen:

„Immer noch wird die Kinomusik durch Leitmotive zusammengekleistert. Während ihr Erinnerungswert dem Betrachter handfeste Direktiven gibt, machen sie es zugleich dem Komponisten in der Hast der Produktion leichter: er kann zitieren, wo er sonst erfinden müßte. Die Idee des Leitmotivs ist seit Wagner populär. Sein Massenerfolg hat stets mit der Leitmotivtechnik zusammengehangen: seine Leitmotive fungierten schon als eine Art von trademarks, an denen man Figuren, Gefühle und Symbole hat erkennen können. Sie waren immer das gröbste Mittel der Verdeutlichung, der ‚rote Faden’ für musikalisch nicht Vorgebildete. Durch hartnäckige und oft kaum veränderte Wiederholungen wurden sie bei Wagner in ähnlicher Weise eingeprägt wie heutzutage eine song-Melodie durch plugging oder eine Filmschauspielerin durch ihre Stirnlocke. Die Annahme war plausibel, daß diese Technik um ihrer Faßlichkeit willen für den Film, der in allen Stücken auf Faßlichkeit hin angefertigt wird, besonders geeignet sein müsse. Dieser Glaube ist aber illusionär. [...] Die Leistung des Leitmotivs reduziert sich auf die eines musikalischen Kammerdieners, der seinen Herrn mit bedeutsamer Miene vorstellt, während den Prominenten ohnehin jeder erkennt. Die ehemals wirksame Technik wird zur bloßen Verdopplung, unwirksam und unökonomisch. Zugleich führt die Leitmotivpraxis, wenn sie, wie im Film, nicht zu ihrer musikalischen Konsequenz entfaltet werden kann, zu äußerster Dürftigkeit der eigentlich kompositorischen Gestaltung“ (S. 12).


Erst in den 1960er Jahren wird die Hollywood-Symphonik zurückgedrängt. In Alfred Hitchcocks Die Vögel (USA 1963) wird – von einem Lied, das diegetisch dargebracht wird, abgesehen – gänzlich auf Musik verzichtet. Hitchcock war mit den Entwürfen seines „Hauskomponisten“ Bernard Herrmann nicht zufrieden. Nach intensiver Suche stieß er in Berlin auf Oskar Sala, der mit dem „Trautonium“ – einer Mischung von Orgel und Synthesizer – neue Klänge und Formen von Musik ausprobierte und nun „Kompositionen“ zu Vogelschreien und Flügelschlägen kreierte. Damit hielt die „Konkrete Musik“ in den Film Einzug. Die Credits weisen Herrmann deshalb lediglich als Sound Supervisor aus, und Oskar Sala und Remi Gassman stehen für den Sound, wobei Gassman die Mischung von Salas Kompositionen und dem Direktton (Waldon O. Watson and William Russell) bewerkstelligte. Natürliche Vogelstimmen wurden in „Die Vögel“ allerdings nicht verwendet.

Die Mischungen aus Geräuschen und Klängen können sich ganz allein auf die minimalistisch eingesetzten akustischen Grundlagen konzentrieren, die es erlauben, Angst und Schrecken zu erzeugen. Zielsicher wählt der Film die Materialien, die die Frequenzen des bedrohlichen Schreckens erzeugen, nämlich schrille Schreie und berstendes Glas, denen er dumpf pochende, von der Angst geführte Schläge gegenüberstellt. Vor allem Dank der Pionierarbeit Oskar Salas werden hier komponierte Klänge erzeugt, die natürliche Geräusche mehr als nur optimieren, nämlich zu autonomen Klanggebilden ästhetisieren. Salas Kompositionen benötigen keine Noten und Musikinstrumente, wie sie sonst gebräuchlich sind, um etwa mittels der Leitmotivtechnik antagonistische Grundgefühle zu markieren und evozieren. Auf den seit King Kong (USA 1933) und durch den Filmkomponisten Max Steiner üblichen „Score“, die Unterstreichung der intendierten Emotionen durch Filmmusik, kann Hitchcock völlig verzichten, weil Salas „Konkrete Musik“ nicht die Umwege von Melodien, Harmonien und zugehörigen Instrumentenklischees gehen muss.


Seit den 1960er Jahren wird das große Filmmusikorchester ersetzt zunächst durch Instrumente aus Jazzensembles und zunehmend aus Folk-, Blues- oder Rock-Formationen. Hier wurde Sergio Leones Spiel mir das Lied vom Tod (USA u. Italien 1968) nicht nur zum Paradebeispiel des „Italowestern“, sondern für diese Art der Modernisierung von Filmkomposionen maßgeblich. Die Leitmotivtechnik freilich blieb freilich erhalten. Die Leitmotive sind in Spiel mir das Lied vom Tod allerdings insofern innovativ gestaltet, als der Komponist Ennio Morricone die vier Hauptpersonen mit vier Grundmotiven und vier Instrumenten – und dabei in drei Fällen moderner – verknüpft hat:

1. treffen wir auf den namenlosen „Harmonika“ (Charles Bronson), den Guten, der durch das gleichnamige Instrument (auch diegetisch) repräsentiert wird;

2. tritt Frank auf, der Böse (Henry Fonda); er ist im Musikmotiv durch die Melodie einer verzerrten E-Gitarre charakterisiert;

3. begegnen wir Cheyenne, dem guten Bösen (Jason Robards); er ist durch das Banjo als Klangfarbe bezeichnet;

4. treffen wir auf Jill MacBain (Claudia Cardinale), die vergebens darauf wartet, dass man sie am Bahnhof abholt, denn ihr Gatte, MacBain, und seine Kinder, denen sie neue Ehefrau und Mutter sein wollte, sind ermordet worden; sie ist durch eine Sopranstimme und – konventionell – Violinen repräsentiert.


Die klassische Instrumentierung feiert seit der Wiederkehr der Filmsymphonik in den 1990er Jahren, als Computerprogramme Orchester zu verdrängen begannen, fröhliche Urständ.


Der oben stehende knapp fünfeinhalbminütige Filmausschnitt aus Teil 1 ist einer Fassung aus dem Jahr 1988 (Bayrischer Rundfunk) entnommen, die Musik wurde vom Münchner Rundfunkorchester unter der Leitung von Berndt Heller eingespielt. Der Ausschnitt zeigt überdeutlich die Kompositionsschemata der Leitmotivtechniken (siehe Filmmusik 1).

Versuchen Sie bitte, die Instrumentenklischees und Melodieschemata aufeinander zu beziehen und mit der Ebene der Handlungen, d.h. dem Kampf zwischen Protagonist und Antagonist: Siegfried und dem Drachen Fafner, zu verbinden. Dazu können Sie unten weitere Informationen zu den musikalischen Mitteln der Affektstimulation nach Eva Rieger hinzuziehen und diese mit den Instrumentenklischees nach Skiles (siehe Filmmusik 2) kombinieren.