Lehrveranstaltungen Lampe, Filmanalyse

Filmmusik 5: Leitmotiv-Tausch

 
 

Ein 2. Beispiel der Leitmotivtechnik ist singulär ist und darf nicht mit der Hollywood-Symphonik verwechselt werden, auch wenn es sich des klassischen Orchesters bedient: La Strada [die Straße] (Italien 1954) von Federico Fellini (Buch und Regie) und Nino Rota (Komponist). Der Film markiert bereits das Ende des italienischen Neorealismus, aus dessen Stilrichtung heraus er entstanden ist; aber die Grenze der Sozialkritik hat der Film schon überschritten, denn er ist eine poetische Parabel zur Emanzipation.

Gleichwohl treffen wir in La Strada die Welt noch an, wie sie der Regisseur Alberto Lattuada rückblickend auf das Selbstverständnis des Neorealismus beschrieben hat – zitiert nach Jerzy Toeplitz, Geschichte des Films. München (Rogner und Bernhard) 1987 u.ö., Bd. 6, S. 54:

 

Federico Fellini, La Strada / LeitMotivtechnik - Tausch der Instrumente

Italien 1954

„Der Zwang zur Wirklichkeit veranlasste uns, die Atelierhallen zu verlassen. Es stimmt, dass unsere Hallen teilweise zerstört oder von Flüchtlingen belegt waren, aber wahr ist auch, dass die Entscheidung, Filme an Originalschauplätzen zu machen, durch das Verlangen diktiert wurde, das Leben so überzeugend wie möglich, mit der Schärfe eines Dokuments zu zeigen. Das Kostüm der Schauspieler war die Kleidung von Menschen, die man auf der Straße traf. Aus Schauspielerinnen wurden wieder für einen Moment ganz alltägliche Frauen. Das war ein armes, zugleich aber ein starkes Kino, das viel zu sagen hatte und das sich in den kurzen Zensurferien, hastig und laut, aber ohne Heuchelei zu Wort meldete. Es war ein Kino ohne Voreingenommenheit, ein persönliches und nicht nur ein Industrieprodukt, ein Kino voll wirklichen Glaubens an die Sprache des Films, an einen Film als Waffe der Erziehung und des gesellschaftlichen Fortschritts.“


Die Fabel von La Strada: Der grobe, gewalttätige und jähzornige Jahrmarktsartist und Gaukler Zampanó (Anthony Quinn) kauft für ein paar Groschen das einfache Dorfmädchen Gelsomina (Giulietta Masina) ihrer verwitweten ärmlichen Mutter ab, die mit dem Geld ihre Kinder ernähren kann. Zampanó wird Gelsomina zu seiner Zirkusgehilfin und Sklavin machen (Ausschnitt 2, 01:38-05:53). Während er alle angenehmen Augenblicke seines ärmlichen Lebens genießt, muss Gelsomina hart arbeiten. Obwohl Gelsomina von Zampano verachtet und misshandelt wird, hält sie unbeirrbar zu ihm und opfert sich für ihn auf, sehnt sich sogar nach seiner Liebe. Der seiltanzende Clown und Narr Matto (Richard Basehart - „matto“ heißt verrückt) ist der einzige, der sie menschlich behandelt, von ihm lernt sie Selbstachtung und fasst den Mut, zu sich selber zu finden. Gelsomina trifft ihn das erste Mal, als er auf der Violine spielt (die Melodie wird zum Gelsomina-Motiv: Ausschnitt 3: 05:57-07:42). Zampano tötet Matto im Streit. Gelsomina wird immer mehr zum schlechten Gewissen Zampanós, der ihre Versuche, trotz allem seine Zuneigung zu bekommen, barsch zurücweist (Ausschnitt 4: 07:45-10:08). Schließlich trennt er sich von der schlafenden Gelsomina und läßt ihr zum Abschied die Trompete zurück (Ausschnitt 5: 10:10-12:16), auf der zu spielen er ihr stets verboten hatte.

Jahre später – Zampanó hat längst eine neue dienstbare Frau gefunden – wird Zampanó an Gelsomina erinnert, als er eine Hausfrau, die im Garten Wäsche aufhängt, Gelsominas Melodie singen hört; die Frau erzählt ihm, dass Gelsomina immer dieses Lied auf der Trompete gespielt habe und vor Gram gestorben sei (Ausschnitt 6: 12:16-15:52). Am Strand, bei Nacht, nach einer fast rituellen Waschung im Meer, gibt sich Zampanó düsteren Empfindungen hin; ein Schluss, der keine Lösung darstellt, aber vielleicht eine Ahnung von tiefer Schuld und Trauer andeutet.

La Strada ist ein seltenes Beispiel einer engen und schon vor Drehbeginn erfolgenden Zusammenarbeit von Regisseur und Komponist. Die Musik als solche ist ja hier in Szenen als integraler Bestandteil aufgenommen: z.B. in der Exposition der Instrumente, d.h. in der diegetischen Verwendung von Trompete, Trommel, Violine) und in den Szenen des Tausch von Instrument und Leitmotiv, was die intensive Zusammenarbeit von Regisseur und Komponist zur Voraussetzung hat.

Nino Rota hat vielen Filmen Fellinis zum Erfolg verholfen, z.B. La dolce vita (1959) und Achteinhalb (1962). Darüber hinaus hat Rota die Filmmusik geschrieben zu Welterfolgen wie Der Leopard (Visconti, 1962) und Der Pate / Godfather (Coppolla, 1971-1990). Rota ist auch als Komponist von Opern bekannt geworden. Sein Markenzeichen in Filmkompositionen ist, dass er keine so genannte „Hollywood-Symphonie“ „zusammengekleistert“ (siehe die Seite „Filmmusik 4“ und die Erläuterungen zu Adornos und Eislers Kritik an der puren Verdopplung von Handlung durch Musik), sondern eine differenzierte Begleitung des Geschehens, der Charaktere usw. zu Gehör bringt und das emotionale Erleben des Films auch intellektuell anreichert.


Die besondere Leistung wird in La Strada an Zampanós und Gelsominas Melodien und dem Tausch „ihrer“ Instrumente deutlich. Beide Leitmotive werden zu Beginn des Films unter den Filmtitel als antagonistische Stücke präsentiert und nehmen die Konfliktstruktur des Grundthemas musikalisch  vorweg (Ausschnitt 1: 00:00-01:36).

Das weibliche und das männliche Element kommen schon im Rhythmus zum Ausdruck: Ein Walzertakt (6/8) trägt Gelsominas Klänge, und der Marsch (4/4) treibt Zampano voran.

Zampanós Melodie, die der Zirkusmusik entnommen ist, basiert auf einer verminderten Sexte, sie klingt wie das Angriffssignal eines Elefanten und erinnert an den Zweiklang eines Martinshorns; sie wird auf der Trompete gespielt und verkörpert das machohafte Dominanzgebaren des Mannes.

Zampanos Melodie wird wird nach der Anfangspräsentation oft gespielt und kehrt an den passenden Stellen im Film wieder. Ich habe im Filmausschnitt 2 nur die Szene wiedergegeben, in der Zampanos Instrumente Trompete und Trommel Teil der Exposition sind (01:38-05:53).

Gelsominas Motiv wird zunächst - in D-Dur - von Matto auf der Violine gespielt (Ausschnitt 3: 05:57-07:42):




Die Melodie ist komplex, sie steigt und fällt, wechselt von Dur nach Moll, drückt unerfüllte Sehnsucht aus und unterstreicht den Wunsch Gelsominas nach Emanzipation und Selbstverwirklichung.

Später wird Gelsominas Motiv nicht nur diegetisch dargeboten, sondern funktional vom Orchester aufgeführt, mit Klarinette und Streichern und Harfen. Gelsominas Motiv erlebt viele Wandlungen: Wichtig ist der Instrumenten- bzw. Melodientausch: Zunächst versucht Gelsomina ihre Melodie auf der Trompete zu spielen, was ihr aber von Zampanó verboten wird (Ausschnitt 4: 07:45-10:08). Später, in der Trennungsszene, ertönt Gelsominas Motiv in der orchestralen Version (mit Streichern und Klarinette), und zwar über dem Bild der Trompete, die Zampanó neben die schlafende Gelsomina legt (Ausschnitt 5: 10:10-12:16). Dadurch wird die Trompete uminterpretiert: Sie ist künftig nicht mehr Instrument der männlichen Dominanz. Am Schluss wird das Motiv weitergegeben, als eine Hausfrau, die im Garten Wäsche aufhängt, Gelsominas Melodie singt (Ausschnitt 6: 12:16-15:52).

 

Der Clip versammelt Ausschnitte, die die singuläre und wunderbare Verwendung von Leitmotiven und den Tausch von Instrumenten und Motiven zeigen (Details u. Erläuterungen unten)